Gut- und schlechtgestellte Probleme im Alltag

Die verrückter-Wissenschaftler-Humor-Folklore kommt gelegentlich dazu Mathematikern zu unterstellen, sie würden sich eher mit der Existenz von Lösungen eines Problems befassen als mit dem Lösen des Problems an sich. Der Witz entsteht hierbei dann natürlich bei der Diskussion der Existenz der Lösung mathematischer Probleme, die sehr einfach zu lösen sind und bei denen man die Existenz der Lösung ganz einfach durch Angabe der Lösung hätte zeigen können, sodass ein spezieller Existenzbeweis gar nicht notwendig gewesen wäre. Verlässt man nun die Folkore in Richtung mathematischer Literatur, so findet man tatsächlich einige Existenzdiskussionen - sie legen in gewisser Weise ja auch die Basis für jedes mathematisches Problem. Wie soll man die Lösung eines Problems herausfinden, ohne das man überhaupt weiß, dass es eine Lösung gibt? 

Neben der Existenz von Lösungen eines Problems, gibt es Axiome, die ein mathematisches Problem bestenfalls erfüllen soll, damit es tatsächlich lösbar ist. Lösbar bezieht sich hierbei darauf, dass die Lösung eines Problems tatsächlich gefunden werden kann. Ein Problem, beidem diese Axiome zutreffen, heißt gutgestelltes Problem, anderenfalls schlechtgestelltes Problem.

Abbildung 1: Titel des Papers [1], in dem Jacques Hadamard die u.g. Axiome aufstellte.  Das Paper lässt sich kostenlos auf dem Server der University of Chicago abrufen. 


Probleme im Alltag unterscheiden sich nun deutlich von mathematischen Problemen. Selten fragt man sich hier, ob persönliche Probleme, wie "Jobsuche", "Partnersuche" oder "wie binde ich eine Krawatte?" tatsächlich eine Lösung haben oder gutgestellt sind. Nach einer kurzen Einführung der oben erwähnten Axiome, und einer eher mathematischen Motivation, werde ich versuchen, die oben genannten Probleme als gut- oder schlechtgestellt einzuordnen.

Definition. Anstelle von allgemeinen mathematischen Problemen wird es im folgenden Absatz nun insbesondere um parametrisierte Nullstellenprobleme gehen, auf welche sich eine ganze Reihe von Problemen zurückführen lässt. Das heißt man betrachtet drei Mengen X, Y und die der reellen Zahlen R. Weiterhin betrachte man eine Funktion ƒ: X x Y → R. Das entsprechende Nullstellenproblem ist: Gegeben sei ein u  ∈ Y. Finde x ∈ X, sodass ƒ(x, u) = 0. Hadamard [1] bezeichnet ein gutgestelltes Problem als eines, beidem
  1. Eine Lösung existiert (d.h. für jedes u ∈ Y gibt es tatsächlich ein x ∈ X, sodass ƒ(x|u) = 0)
  2. Die Lösung eindeutig ist (d.h. für jedes u ∈ Y, gibt es genau ein x ∈ X, sodass ƒ(x) = 0)
  3. Die Lösung stabil ist, es gibt eine stetige Funktion g: Y → X, welche die für ein eingesetztes u, die Lösung x zurückgibt. Also ist g gegeben, sodass f(g(u),u) = 0. (d.h. eine leichte Änderung von u, bewirkt eine leichte Veränderung von x)
Erfüllt ein Problem 1., 2. oder 3. nicht, so heißt es schlechtgestellt.


Beispiele. Man betrachte zunächst einige mathematische Beispiele, welche die ersten beiden Punkte verdeutlichen sollen.
  • Seien X = Y = R, die Menge der reellen Zahlen, und ƒ(x|u) = x-u (x ∈ X), dann ist das Nullstellenproblem lösbar und eindeutig; x = u. Die Funktion g ist gegeben durch g(u) = u und stetig.
  • Seien X = Y = (0,∞), die Menge der reellen Zahlen, die strikt größer sind als 0, und ƒ(x|u) = x+u (x ∈ X), dann ist das Nullstellenproblem nicht lösbar.
  • Seien X = R, Y = (0,∞),  und f(x) = x2 - u2 (x ∈ X), dann ist das Nullstellenproblem lösbar, aber nicht eindeutig; x ∈ {-u,u}.
  • Seien X = R, Y = [-1,1] und ƒ(x|u) = sgn(u) + x (x ∈ X, u ∈ Y), wobei sgn(u) = 1 (u ≥ 0) und sgn(u) = -1 (u < 0). Damit lässt sich die Funktion g: Y → X exakt angeben als g(u) = -sgn(u) (u ∈ Y), ist aber nicht stetig. Genauer: Springt man von 0 in den negativen Parameterbereich, ändert sich die Lösung sprunghaft von x = -1 zu x = 1.
Diese Beispiele waren allesamt sehr pathologisch, also einfache Beispiele, die nicht sehr realistisch sind. Ein realistisches Beispiel für ein schlechtgestelltes Problem ist vielleicht die lineare Regression. 

Beispiel. Gegeben sind Tupel (u1,1, u2,1),...,(u1,n,u2,n) ∈ R2, bei denen man davon ausgeht, dass sie einen linearen Zusammenhang haben, d.h. es gibt im Grunde eine lineare Funktion h: R → R, sodass h(u1,i) = u2,i (i ∈{1,..., n}). Nun sind die Daten u jedoch statistische Beobachtungen und demnach vermutlich durch Messfehler verrauscht, deshalb ist die Gleichung 

f(x,u) = ||(x1 + x2u1,i - u2,i)(i{1,..., n})||2 = 0 

vermutlich auch nicht lösbar (fehlende Existenz), weswegen man diese Gleichung minimiert um eine gute Näherungslösung zu erhalten. In Abbildung 2, ist eine Punktwolke gegeben und eine lineare Regressionsgerade "durch" diese Punkte. Die Regressionsgerade hat y-Achsenabschnitt xund Steigung x2. Die Gerade, welche die o.g. Gleichung lösen würde, müsste durch alle Punkte laufen. Durch Messfehler ist dies möglich und das Problem "Finden von x1 und  x2" schlechtgestellt.

Abbildung 2: Lineare Regression


Persönliche Problemstellungen. Zuerst sei noch erwähnt, dass der Problembegriff hier völlig neutral besetzt und eine jegliche Art von Begriffskonnotation nicht gewünscht ist. Die drei Beispielprobleme, die oben erwähnt wurden, werden nun erst spezifiziert, und zwar so, dass möglichst viele der Axiome 1.-3. erfüllt sind, und dann werden die Axiome getestet. Dieses Testen der Axiome ist natürlich äußerst subjektiv.
Jobsuche: "Finde einen Job für mich, der mir ein möglichst hohes Einkommen beschert." Die Menge aller Jobs, die für mich infrage kommen, ist endlich, da es nur endlich viele Stellen auf der Welt gibt und nicht-leer, da ich zurzeit tatsächlich einen Job habe. Damit ist dies ein Maximierungsproblem über einer endlichen Menge und damit lösbar, also existiert eine Lösung. Eindeutigkeit ist nicht klar. Einerseits wirkt es plausibel, dass es unwahrscheinlich ist, bei zwei verschiedenen Arbeitgebern das exakt gleiche Gehalt zu bekommen, andererseits könnte auch ein Arbeitgeber zwei Stellen ausgeschrieben haben, die beide infrage kommen würden und identisch vergütet werden. Ein Parameter, der sich in diesem Problem verändern ließe, ist die Person, um die es geht. Eine marginale Veränderung meiner Person (zum Beispiel einer meiner Arbeitskollegen) würde die Chancen auf dem Arbeitsmarkt nur marginal (wenn überhaupt) verändern. Damit ist das Stabilitätsargument auch erfüllt und das Problem gutgestellt.
Partnersuche: "Finde eine Partnerin für mich, mit der ich glücklich bin, die mit mir eine Familie gründen möchte und bis zum Lebensende zusammenbleiben möchte." Existenz und Eindeutigkeit: Unklar. Ein Langzeitsingle würde die Existenz vermutlich in Frage stellen. Der kürzlich verstorbene Hugh Hefner vermutlich die Eindeutigkeit. Ich persönlich stelle beides in Frage. Betrachtet man Personen, die mir sehr ähnlich sind (sich von mir nur marginal unterscheiden), so könnten diese dennoch ein völlig anderes Konzept von Partnerschaft haben und mit einer potentiellen Partnerin die meiner ähnlich ist aus diversen Gründen völlig unzufrieden sein. Stabil ist dieses Problem also ebenfalls nicht. Potenziell ist kein einziges Axiom ist erfüllt, damit ist das Problem Partnersuche schlechtgestellt.
Krawatte: "Binde die grau-weiß gestreifte Krawatte, die in meinem Schrank hängt." Das Problem ist in jedem Fall lösbar (Existenz), wenn auch nicht eindeutig. Meine persönlichen Verknotungsfähigkeiten lassen nur einen sehr einfachen Knoten zu. Es gibt aber durchaus auch beliebig komplizierte Knoten, wie den Windsor oder den zweifachen Windsor. Jede andere Krawatte, mit einer annähernd identischen Form, (das wäre wohl eine marginale Veränderung) lässt sich ebenfalls so oder so ähnlich binden, also ist das Problem stabil. Wegen mangelnder Eindeutigkeit ist das Problem Krawatte binden schlechtgestellt. Für mich persönlich ist das Problem gutgestellt, da ich nur einen Knoten beherrsche, der sich universell für jegliche Krawatte einsetzen lässt. Damit ist dieses Problem aus meiner Sicht gutgestellt.

Warum das Ganze? Das persönliche Leben der meisten Menschen, genauso auch das gesellschaftliche Leben, ist voller Probleme. Einige persönliche Probleme habe ich eben benannt. Gesellschaftliche Probleme könnten sein: "Wie senke ich die Kriminalitätsrate?", "Wie nehme ich Donald Trump und Kim Jong-Un ihre Waffen weg?", "Wie überzeugt man die Bürger Deutschlands zur Wahl zu gehen und eine demokratische Partei zu wählen?" Nun gibt es keine numerischen oder andere systematischen Algorithmen um solche Probleme zu lösen. Das Testen von Hadamards zweitem und drittem Axiom bei Echt-Welt-Problemen wirkt deshalb eher redundant. Das erste Axiom ist natürlich ziemlich zentral. Warum das Ganze? - Vielleicht, weil das Testen dieser Axiome einem systematischen Befassen mit dem Problem und dem Problembegriff an sich gleichkommt. Unabhängig, wie sich dieses Befassen mit dem Problem auf Problem und Anwender auswirkt: Das klingt nach einem guten Anfang auf der Suche nach einer Lösung des Problems.

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[1] J Hadamard (1902) Sur les problèmes aux dérivés partielles et leur signification physique, Princeton University Bulletin 13:49-52.

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