Persönlicher Brexit.

Es war 6:48 Uhr britischer Sommerzeit am 24. Juni letzten Jahres. Mein Handy piepste mich aus dem Schlaf. Ich drückte drauf und las eine WhatsApp-Nachricht. „Ich habs gerade schon gesehen“ stand da. Schlaftrunken brauchte ich einige Momente um mich zu orientieren. Ich hatte nur etwa drei Stunden. Die Absenderin der WhatsApp-Nachricht, hatte mir geantwortet auf meine Nachricht: „Bisher sieht es recht gut aus für Leave :(“, die ich um 01:22 Uhr am selben Morgen abgeschickt hatte. Mit einem flauen Gefühl im Magen, aber wohl wissend, wie der Stand vor etwa drei Stunden war, setzte mich aufs Bett und klappte meinen Laptop auf. Die BBC-Webseite war noch offen und ich sah es: Der Vorsprung der leave campaign war uneinholbar. Die Briten hatten sich gegen die weitere Mitgliedschaft in der Europäischen Union entschieden. Das flaue Gefühl wich einer Übelkeit, die sich gewaschen hatte.

Nach einer Dusche fuhr ich an die Uni. Im Bus ignorierte ich die kostenlosen Metro-Zeitungen, wie fast jeden Morgen. Am Tag zuvor nicht, da hatte sie ganz groß „Vote Leave“ getitelt. Ich stieg an der Universität aus, lief zu dem kleinen Lebensmittelmarkt, in dem ich mich mit etwas Frühstückbarem eindecken wollte. Dabei kam ich an dem Großbildschirm auf dem „Plaza“ der Uni vorbei. Auf der anderen Seite des Bildschirmes stand PM Cameron vor Downing Street 10 und trat gerade zurück. Er war es, der dieses Referendum angekündigt hatte und der hoffte, es nie durchführen zu müssen, bzw. es dann mit Leichtigkeit gewinnen zu können. Kurzfristig hatte diese Ankündigung ihre erwünschte Wirkung ganz eindeutig gehabt: Er wurde nach einem Stimmungstief wiedergewählt. Ob er es im Nachhinein als Fehler sieht? Auf dem Bildschirm sieht er aus, wie ein aufrichtiger Verlierer. Nach obiger Argumentation kann man jegliche Aufrichtigkeit dieser Person wohl als heuchlerisch bezeichnen.

Mir ist noch immer schlecht. Ohne Frühstück laufe ich weiter zum Computer Science Building, in dem ich meinen Schreibtisch hatte. In der Tür, der Institutssekretärin bleibe ich stehen. Vor einigen Tagen hatten wir noch über den Brexit gewitzelt, jetzt war er Realität. Sie fühle sich so, wie an den Morgen nach den Wiederwahlen von PM Maggie Thatcher, meinte sie. Dies würde ich später einem Remain-Wähler erzählen, woraufhin er antworten würde: „Auch die war nicht so blöd aus der EU auszutreten.“

Ich ging weiter zu meinem Büro. Mein chinesischer Bürokollege war ganz schockiert von dem Ergebnis. Bei allem, was er wisse über die EU, sei diese Mitgliedschaft doch schon ziemlich bedeutend. Ich nickte, lies ihn dann aber links liegen und setzte mich an meinen Schreibtisch. Routiniert griff ich nach meiner Union-Jack-Teetasse und nach einem Clipper Everyday Brew Teebeutel.

Die angeblichen drei goldenen Regeln der Londoner Polizei lauten:
  1. Komme abends lebendig nach Hause.
  2. Komme morgens pünktlich zum Dienst.
  3. Wenn du morgens pünktlich beim Dienst erschienen bist, koche zuerst Tee.
Die ersten beiden Regeln waren für mich immer irrelevant, ich erfülle sie einfach so nebenher. Die dritte Regel hingegen befolge ich mit preußischem Gehorsam. Aber nicht an diesem Morgen.

Noch bevor ich mich auf den Weg machen konnte um kochendes Wasser zu besorgen, grummelte mein Magen schon wieder. Heute keinen Tee, dachte ich. In einem Rosamunde-Pilcher-Film würde ein Mann, am Vorabend von seiner Frau verlassen wurde, wohl auch keinen Scone mit ihrer selbst gekochten Marmelade essen – obwohl, in diesen Filmen ist wohl alles möglich.

Ich schaltete meinen Rechner ein und ging sofort wieder auf die BBC-Seite. Nach Arbeiten war mir heute nicht. Ich sah ein Interview mit Nigel Farage, dem Chef-EU-Austreter von UKIP. In diesem Interview nahm er gerade einige Wahlversprechen der „Leave“-Campaign zurück. Schon der zweite Spät-Aufrichtige, dem ich an diesem Morgen im Fernsehen begegne. Mein Magen meldete sich wieder. Dieses Mal eher belustigt und hungrig als schlecht: Man kann einen Wahlkampf schon so führen, wie das die „Leave“-Campaign gemacht hat, dann sollte man nur sicherstellen, dass man nicht gewinnt, dachte ich mir belustigt. Die Verzweiflung hatte ich wohl überstanden.

Zum Mittagessen traf ich mich mit einem Freund - auch ein Deutscher. Wir entschieden uns für asiatisches Streetfood und Bier aus einer Brauerei eines Holländers, der in die USA ausgewandert ist – beides unverhältnismäßig teuer, aber gut. Die Stimmung war schlecht.

Einige Stunden später saß ich im Zug; neben einer jungen Britin. Sie hörte Musik über nicht sehr schalldichte Kopfhörer, ich las und hörte (offenbar) auch ihre Musik. Sie gefiel mir, ich wollte die Britin ansprechen, aber ich traute mich nicht. Irgendwann stieg sie aus und der Zug fuhr weiter, mit einer Gelassenheit, die mir bei den Briten schon immer äußerst gut gefallen hat.

Mit einer deutlichen Verspätung traf ich bei meiner Tante ein. Sie ist vor 20 Jahren nach England ausgewandert und würde mich nun für ein Wochenende beherbergen. Ihr Mann – ein Engländer – war in etwa der Einzige in ihrem idyllischen Dorf, der für „Remain“ gestimmt hatte. Angstkampagnen schlagen immer dort am besten ein, wo einem die Angst, die man schürt, völlig unbekannt ist.

Einige Tage später würde ich wieder in einem Zug sitzen. Neben mir, zwei Engländer, die sich über den Brexit stritten. Ich dachte erst, einer der beiden sei dafür und der andere dagegen. Nach aufmerksamem Zuhören vermutete ich, beide hatten „Leave“ gewählt und inzwischen gemerkt, dass das blöd war. Schon vorher hatte ich gelesen, dass die häufigsten Google-Suchanfragen im Vereinigten Königreich nach der Wahl: „What is the European Union?“ und „What does it mean to leave the European Union?“ waren. Die beiden Streithähne konnten mich kaum noch schocken.

Vor wenigen Tagen hat die Premierministerin Theresa May den Austritt aus der Europäischen Union beim Europäischen Rat beantragt. Ich wohne seit Ende letzten Jahres wieder in Deutschland und trinke wieder Tee. Im Januar war ich für eine Woche in England. Den Briten habe ich ihren Seitensprung längst verziehen. Die Realität nicht. Wenn mich in England jemand fragen würde, wo ich herkomme, würde ich sagen:

Technically, I am a citizen of the European Union. However, I love the Beatles, ale, tea, fish and chips, pies, British humour, pub quizzes, Irish whiskey, Indian takeaway, fog and rain. I have places where I feel at home that are on my passport and there is one, that is not.

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